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Reimvorrede

Im frz. Original (Aux lecteurs) ein kunstvoll gebauter Zehnzeiler zu zehn Silben (dizain) mit dem Reimschema ABABBCCDCD. Fischart ersetzt dies durch vierhebige Reimpaare. Argumentationsgang bei Rabelais: Lasst alle Leidenschaften außen vor, regt euch beim Lesen nicht auf, denn hier ist nichts Schlechtes noch Ansteckendes drin. Meisterschaft kannst du hier nicht erlernen, es sei denn im Lachen. Einen anderen Gegenstand will mein Herz nicht wählen. Wenn ich euren Kummer zur Kenntnis nehmen, schreibe man besser über das Lachen als über Tränen. Denn Lachen ist des Menschen Eigenschaft.

Argumentationsgang bei Fischart: Nachdem ich euren Kummer recht betrachte, will ich euch Abhilfe vom Übel verschaffen. Der Arzt soll guten Rat geben und das Gemüt erfreuen, dann folgt der Körper nach. Kurzweil ist die rechte Arznei für das Leid, deshalb schreibe ich lieber vom Lachen als vom Weinen, dabei bedenkend, dass nur dem Menschen das Lachen zukommt. (Ab hier das Gedicht von Hugo Salel:) Wenn Autoren gelobt werden, die den Nutzen versüßen, dann ist auch dieses Buch recht, denn es reicht Honig zum Wermut (nach Lukrez). Lasst euch darauf ein, als ob ihr Demokrit über die Torheit der Welt lachen hörtet. Solche Leute müssen auch sein, die weiße Wände beschmutzen und die Leute sachte im Scherz treffen. Nicht jeder ist ein Cato. Und wie der Schlaf dem Leib guttut, so Kurzweil (Unterhaltung) dem Gemüt. Drum lies, fröhliches Gemüt, ob es dir frische Zuversicht verleiht.

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  • 1-2 Demnach ich sah ... frett vnd plaget ] Entspricht im frz. Gedicht: "Voyant le dueil, qui vous mine et consomme" (Vers 8); "Wenn ich den Kummer sehe, der euch auszehrt und verbraucht".
  • 1 naget ] nagen, v. reflexiv 'sich plagen, abquälen, bekümmern'.[1]
  • 2 mit kommer frett ] Kommer, m. Nebenform von Kummer; fretten, v. 'scheren, plagen, quälen'.[2]
  • 6 die Zän ausgribel ] ausgrübeln, v. 'suchend durchwühlen'; 'nachforschen';[3] Fischart setzt das angestrenge Grübeln, Nachdenken gleich der Tätigkeit, Essensreste aus den Lücken der Zähnen herauszufischen.
  • 8 Wie Wittfraw auff der Bien ertrencke ] Sind hier Witwen gemeint, die ihren Kummer heimlich auf dem Dachboden im Wein ertränken? Oder auf der Theaterbühne dargestellte Witwen, die aus Kummer ihrem Leben ein Ende bereiten? Kurz III, S. 422: „Ich kann diese Anecdote nicht nachweisen.“ - Oder liegt hier eine Anspielung auf die Erzählung von der Witwe von Ephesus (Petronius: Satyricon 111) vor, die Tag und Nacht am hypogaeum (= Bühne für den aufgebahrten Leichnam?) um ihren Ehemann weinte, um es sich kurz darauf ganz anders zu überlegen?
  • 12 naher walten ] nacher, adv. 'nach'; 'hernach, später'; 'hinterher'[4] - walten, v. 'Anteil an etwas haben'; vielfach nur umschreibend für 'haben'.[5]
  • 15-18 das lachen ... Jst des Menschens recht eigenschafft ] Entspricht im frz. Gedicht: "Mieulx est de ris que des larmes escipre. | Pource que rire est le propre de l'homme."(Vers 9 u. 10); "Besser schreibe man von Lachen als von Tränen. Denn das Lachen ist des Menschen Eigenschaft." Nach Aristoteles: De partibus animalium III,10 (673a8): "dass sie [die Menschen] die einzigen Lebewesen sind, die lachen"[6] Auf den Begriff hat es allerdings erst Porphyrius gebracht, der in seiner Isagoge (4) zu den Kategorien des Aristoteles vom "proprium hominis" sprach. - Mit der Beobachtung des Aristoteles rechtfertigt Rabelais gleich zu Beginn die heitere Muse seines Romans.
  • 15 so mär ] so, adv. mit Komparativ,[7] 'umso mehr'.
  • 17 in all krafft ] 'mit aller Kraft',[8] 'in jeder Hinsicht'.
  • 19-36 ist eine freie Übersetzung des Gedichts (dizain) von Hugo Salel, das zu Beginn des Pantagruel abgedruckt ist: "Si pour mêler profit avec douceur | On met en prix un auteur grandement, | Prisé seras, de cela tiens toi sceur: | Je le connais, car ton entendement | En ce livret sous plaisant fondement| L'utilité a si très bien décrite, | Qu'il m'est avis, que vois un Démocrite | Riant les faits de notre vie humaine. | Or persévère, et si n'en as mérite | En ces bas lieux: l'auras en l'haut domaine." -
  • 19 so ein Author je - nutz mit süß verblümet ] Hugo Salel zitiert Horaz: De arte poetica 343: "omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci | lectorem delectando pariterque monendo"; "Stimmen von allen erhält, wer das Nützliche mischt mit dem Heitern" (Übesetzung: Rudolf Helm).
  • 23-24 Vnd schmiert mit Honig euch das Glaß | Daß der Wärmut eingang deß baß ] Dieses Bild übernimmt Fischart aus dem "Gleichnis vom trügerischen Becher" von Lukrez: De rerum natura IV, 8-22: "nam veluti pueris absinthia taetra medentes | cum dare conantur, prius oras pocula circum | contingunt mellis dulci flavoque liquore, | ut puerorum aetas inprovida ludificetur | labrorum tenus ... "; "Wie, wennn die Ärzte den Kindern die widrigen Wermutstropfen | Reichen, sie erst ringsum die Ränder des Bechers bestreichen | Mit süßschmeckendem Seime des goldigfarbenen Honigs, | Um die Jugend des Kindes, die ahnungslose, zu täuschen ..." (Übers. Hermann Diels) - zu ihrem eigenen Nutzen, versteht sich, denn nur so können sie sich erholen und Genesung wird möglich. Ebenso verfährt der Dichter, wenn den Einfältigen die Lehre zu trocken erscheint, dann verwendet er den süßesten Wohlklang zu ihrer Verbreitung (Hinweis auf die Übernahme durch Fischart: Straessle 2011, S. 262-264).
  • 26 Democritum - lachen der Welt thorheit ] Pantagruel: "un Démocrite Riant les faits de notre vie humaine" - Demokritos (470/60-380/70 v. Chr.), der lachende Philosoph; vgl. Seb. Franck: Chronica 1536, 124v/125r: "Democritus von Abdera der fürtreffenlichst philosophus ... gab sich in ein wüste ... der menschen torheit zůbelachen."[9]. S. auch Kap. 23, S. 302: "Darmit sie fein augenscheinlich den Heraclytisenden Democritum vnd Democrytisenden Heraclitum anmaseten".[10]
  • 29 Leut ... Die weisse Wänd bstreichen mit Ruß ] Umschreibung des Narren? Vgl. "Weisse Wände sind Papier für Narrenhände; Muraille blanche papier des sots".[11]
  • 31 rühren fein ] rühren, v. 'mit Tadel treffen', 'tadeln, mit Verweis strafen';[12] fein, adv. "neben einem verbum in der bedeutung von wol, recht, hüsch, zuweilen blosz ausfüllend und bedeutungslos".[13]
  • 32 Catones ] Catones, 'strenge Sittenrichter', benannt nach Marcus Porcius Cato Censorinus (234-149 v. Chr.); vgl. Cornelius Nepos: De viris illustribus, Cato 2: "Cato, censor factus ... severe praefuit ei potestati"; "er verhängte schwere Strafen und machte sich achtzig Jahre lang im Dienste des Staates aufopferungsvoll Feinde"; vgl. Parat, S. 37: "der Sauressich Cato von Vtica".
  • 35 du frölichs Blut ] Blut, n. steht "für das lebende wesen selbst, für mensch".[14]

Literatur:

  • Bachorski: Irrsinn und Kolportage 2006, S. 442 (richtig: den Hinweis auf das zutiefst menschliche Lachen nimmt F. sogleich wieder zurück durch Negativierung des Lachens und Fesselung an den nutz)
  • Barbara C. Bowen: Enter Rabelais, Laughing. Nashville, London: Vanderbilt Univ. Press 1998, S. 21 [Vorschau]
  • Franz Ferdinand Effenberger: Felsen-Pantheon und Natur-Parik auf der Herrschaft Kleinskal in Böhmen. Leitmeritz: Medau 1828. XIV, 239 S., hier S. 144 f. [Digitalisat]
  • Anton Englert: Zur Fischartbibliographie I-VI. In: Alemannia. Zeitschrift für Sprache, Litteratur und Volkskunde des Elsasses und Oberrheins 19 (1892), S. 114-132, hier 128
  • Glowa (2000), S. 25.
  • Hubert Herkommer: Das Buch als Arznei. Von den therapeutischen Wirkungen der Literatur. In: Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Rusterholz zum 65. Geburtstag. Francke 1999, S. 87-111, hier S. 100.
  • Kurz: Sämtl. Dichtungen (1866), III, S. 422.
  • Rathmann (1991), S. 112.
  • Juliane Rieche: Literatur im Melancholiediskurs des 16. Jahrhunderts: volkssprachige Medizin, Astrologie, Theologie und Michael Lindeners 'Katzipori' (1558). Hirzel 2007, S. 20 u. 26, 182 u. 189.
  • Rusterholz (1978), S. 129 und 138.
  • Schäfer: Moral und Satire 1992, S. 133.
  • Schlossbauer 1998, S. 108.
  • Heinz-Günther Schmitz: Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert. Olms 1972, S. 169.
  • Seelbach 2000, S. 409.
  • Thomas Strässle: Poetologien der Mischung. Textmodelle im Barock. In: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Andreas Gardt, Mireille Schnyder, Jürgen Wolf. Berlin: de Gruyter 2011, S. 261-274, hier s. 263-265 zur Reimvorrede Fischarts.
  • Weinberg (1986), S. 26 u. 41.
  • Dümouriez der Vater. In: Der Genius der Zeit: Ein Journal hrsg. von August Hennings. Bd. 10 (Januar bis April 1797), S. 232-250, hier S. 248-250.

Nachweise

  1. DWB 13, 274: nagen III 1, mit dieser Stelle.
  2. DWB 4, 140, mit dieser Stelle.
  3. DWB 1, 878, mit dieser Stelle
  4. DWB 13, 45 f.
  5. DWB 27, 1374 u. 76: walten II1 d α und ζ.
  6. Lefranc I, Prol., 7; Steinsieck 7,11 - Defaux 78,5: "De partibus animalium X,9". Vgl. die lat. Fassung: "rident enim celeriter qui titillantur, quia motus celeriter ad eum locum perveniat ... causa autem cur homo animalium unus titilletur, et cutis tenuitas est, et quod solus omnium animalium rideat." (Aristoteles latinus, De partibus animalium, Theodoro Gaza interprete, 673a); "Wenn Leute gekitzelt werden, brechen sie schnell in Gelächter aus, und zwar weil die Bewegung schnell in diesen Teil des Körpers eindringt ... Die Tatsache, dass nur Menschen zum Kitzeln empfänglich sind, ist auf die Feinheit ihrer Haut zurückzuführen und darauf, dass sie die einzigen Lebewesen sind, die lachen." (Übers. U.S.)
  7. DWB 16, 1345: so A 1 c.
  8. DWB 11, 1934: Kraft II 1 b γ, mit dieser Stelle; vgl. Sp. 1944: Kraft 15 d, 'vermöge', 'vermittels'.
  9. "Democriti gelächter über das eitel wesen der welt." bis 127v ausführliche Darstellung bei Franck
  10. Garg. "... par eulx estoit Democrite heraclitizant et Heraclite democritizant representé". - Die antiken Quellen hierfür sind: Juvenal 10,28 ff.; *Lucian: Vit. auct. 13; Seneca d.J.: Dialogi 9,15,2,3. Vgl. Andreas Alciati: Emblemata 1542, Nr. 96: In vitam humanam (lachender Demokrit und weinender Heraklit), dazu die deutsche Übersetzung: "Democrite du spott vnd lach Der narrheyt, so yetz ist zwifach Bey allen stenden in gemayn".
  11. Wander: Wand 24, nach Eiselein; "A white wall is a fool's writing paper" (Wander: Narrenhand 3); "Narrenhände besudeln Tisch und Wände" (ebd.); "Narren Hände beschmeissen alle Wände" (Wander: Narrenhand 1).
  12. DWB 14, 1466: rühren f
  13. DWB 3, 1455.
  14. DWB 2, 173 f.: Blut 8, mit dieser Stelle.